Der Schmetterling, der Trompetenmusik liebte


Er erwachte, weil es hell war und warm. Es war aber nicht nur die äußere Helligkeit und Wärme, die ihn geweckt hatten. Es war ein Klang, der so hell strahlte und gleichermaßen so warm und dunkel zu ihm drang und dem er nicht widerstehen konnte. Es war der Klang einer Trompete.

Er war beim Erntedankfest hierhergekommen, in einem Hopfenstrang, aber daran hatte er keine Erinnerung. Damals war er eine Raupe gewesen, er hatte schnell noch ein bisschen Hopfen gefressen, sich dann verpuppt und in der Puppe den Winter über geschlafen.
Jetzt war er aus diesem tiefen Schlaf erwacht. Mühsam kroch er in die Richtung, aus der der Klang gekommen war. Die Beine waren noch so schwer und ungelenk. Die Töne, die ihn geweckt hatten, waren verklungen. Aber es gab andere, die auch schön waren. Zu denen machte er sich auf den Weg. Immer wieder musste er Pause machen, die Flügel entspannen. Dann spannen, wieder zusammenklappen. Dann wieder ausruhen. Horchen. Aber das, was ihn im Innersten berührt hatte, was ihn aus seiner Verpuppungsstarre gelockt hatte, war verstummt. Trotzdem hörte er nicht auf, sich der Musik zu nähern. Direkt vor den Füßen eines Cellisten wollte er eine Weile verschnaufen. Das brachte den Cellospieler in eine verzwickte Lage. Einerseits sollte er sich auf sein Spiel konzentrieren. Das bedeutete, dass er nicht darauf achten konnte, wohin er seine Füße während des Spiels setzte. Andererseits wollte er dem kleinen Schmetterling, dem ersten Frühlingsboten in diesem Jahr, kein Leid antun. Alle Zuschauer bangten um das Leben des kleinen Falters. Der aber wollte nur der Musik näher sein. So krabbelte er schließlich auf den Schuh des Cellospielers, um von dort nach oben zu gelangen.
Genau in diesem Moment aber war das Stück zu Ende. Der Cellist machte in der Absicht, ihn zum Fliegen zu bringen, eine schnelle Bewegung mit dem Fuß; erschrocken flatternd floh der Falter. In einer Ritze zwischen den Dielen des Holzfußbodens fand er sich wieder. Nur langsam gelang es ihm, sich aus der Fuge zu befreien. Erschöpft hielt er inne.

Und dann war es plötzlich wieder da. Es waren wieder solche Töne, wie ihn zuvor geweckt hatten. Sie hoben ihn hoch in den Raum. Die Flügel hatten sich ganz von allein ausgebreitet und trugen ihn, wie ihn diese Töne trugen, die so sanft und dabei so stark waren. Was für ein Gefühl, leicht, froh, eins mit dem Raum, in dem er schwebte.
Doch die Musik verklang erneut. Seine Flügel waren noch ungeübt und nicht stark genug. Er taumelte, versuchte sich zu fangen und landete, Zufall oder Fügung, genau dort, woher der Ton gekommen war. Dort, auf der linken Brusttasche am Jackett des Trompeters, saß er genau in Höhe seines Herzens. Da wollte er von nun an bleiben. Aber er merkte schnell, dass dieser Platz nicht so geeignet war. Das Herz des Musikers schlug vor Schreck einen Moment unruhiger als es das bei seiner Landung getan hatte. Also krabbelte er über die Schulter des Musikers auf dessen Rückseite und blieb dort, wiederum in Herzenshöhe, sitzen. Nie wieder würde er von hier fortgehen!
Nach dem Konzert verließ der Bläser den Altarraum und kehrte gleich darauf zurück, um den Applaus des begeisterten Publikums entgegenzunehmen. Doch ohne es zu wissen, war er nun nicht mehr allein.

Allerdings konnte der Musiker den Falter nicht immer bei sich haben. Wie hätte er auch auf einen Schmetterling aufpassen können! Also musste der für sich selbst sorgen. Unbeobachtet schlüpfte er in das Schallstück der Trompete und dort verhielt er sich still. Er war müde, weil er zum ersten Mal aus diesem langen Schlaf erwacht war in einem veränderten, ungewohnten Körper, was ihn anstrengte. Und er war zur selben Zeit hellwach, weil ihn diese Musik so tief bewegt hatte. Aber die Müdigkeit siegte endlich und so schlief er selig ein.
Als der Trompeter das nächste Mal das Instrument zur Hand nahm, verließ der Schwärmer sein Versteck und spannte wieder seine Flügel, schwang sich, getragen, gehalten von dieser Musik, in den Raum. Er liebte das Gefühl der Schwerelosigkeit, liebte es, in der Musik zu vergessen, dass er nicht ewig leben würde und er liebte es, nur diesen warmen, klaren Klang zu spüren, nur jetzt zu sein, im Einklang mit sich selbst und der Musik.
Wieder und wieder verbarg er sich in dem Instrument und der Trompeter, der anfangs überrascht war, wenn der kleine Falter unerwartet bei jedem Üben und jedem Konzert wieder auftauchte, gewöhnte sich an dessen beharrliche Gegenwart. Nach und nach genoss er sogar die Nähe des bunten Fliegers. Der begann, immer häufiger, wenn er müde wurde, sich dort niederzulassen, wo er am liebsten war, wenn er nicht flog: ganz nahe bei dem Herzen des Musikers.
Viel später saß er bei Konzerten dort, wo früher die Krawattenschleife des Meisters gewesen war, genau in der Mitte zwischen dem Herzen, wo der Ton entstand, und dem Instrument, von wo der Ton hinaus in die Welt ging.
Konzertbesucher dachten, dass die Fliege, die der Virtuose trug, zwar klein, aber doch sehr hübsch sei. Sie meinten, noch nie so eine spezielle Krawattenschleife gesehen zu haben. Viele Menschen sehen eben nicht so genau hin. Aber eines Tages sagte ein Kind mitten im Konzert zu seinem Großvater: „Schau doch, Großvater, warum hat der Mann dort mit der Trompete einen richtigen Schmetterling am Kragen?“ Da wäre der Großvater froh gewesen, wenn er diese Geschichte gekannt hätte.

                                                                                       

                                                                                                       © Rosemarie Schrick