Katinkas Glück
An Katinkas Geburtstag hatten ihr alle ein Geschenk gemacht. Mama, Papa, Oma, Opa und Tante Anna hatten ihr etwas von dem geschenkt, was sie sich gewünscht hatte: Mama hatte ihr neue Buntstifte, Wasserfarben und zwei neue dicke Pinsel geschenkt. Papa hatte ihr eine Vogelflöte geschenkt. Die füllte man mit Wasser, blies hinein und schon ertönte das schönste Vogelgezwitscher. Opa und Oma hatten ihr das große Kaleidoskop geschenkt, dass sie sich so sehr gewünscht hatte. Wenn man es drehte, erschienen immer neue Muster in dauernd wechselnden Farben. Tanta Anna hatte ihr zwei Bücher in großer Schrift geschenkt, weil sie gerade erst angefangen hatte zu lesen.
Und sie alle hatten ihr ganz viel Glück gewünscht. Auch in der Schule hatten ihr die anderen Kinder und die Lehrerin viel Glück gewünscht. Katinka hätte gern gewusst, was das war, das Glück, das ihr alle wünschten.
Und heute also hatte sie sich aufgemacht, um herauszufinden, was es mit diesem Glück auf sich hatte.
Sie ging gleich hinten aus der Gartenpforte und kam so nach wenigen Schritten zur Weide, wo das Pferd immer stand und graste.
„Hallo, Pferd“, begrüßte sie es und das Pferd spitzte die Ohren.„Pferd, weißt du, was Glück ist?“
„Oh ja, natürlich“, wieherte das Pferd ohne lange zu überlegen.
„Glück ist saftiges grünes Gras und besonders viel Glück ist es, wenn es reichlich davon gibt.“
Katinka wusste genau, was das Pferd meinte. Sie liebte es, morgens im frischen feuchten Gras mit bloßen Füßen umherzulaufen, bis Mama sie zum Frühstück rief. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es das war, was ihr alle zum Geburtstag wünschten. Also beschloss sie, noch andere zu fragen.
Sie war noch nicht lange gelaufen, da sah sie eine dicke, weiße Wolke am Himmel.
„Hallo, Wolke,“ rief sie hinauf, „weißt du, was Glück ist?“
„Natürlich“, puffte die Wolke und wurde gleich noch ein bisschen dicker. „Glück ist reichlich Dampf, je mehr desto besser.“
Das kannte Katinka auch. Mama sagte oft morgens vor der Schule zu ihr: „Los, Katinka, mach mal ein bisschen Dampf.“ Und die Wolke hatte irgendwie Recht. Dampf machen machte richtig Spaß. Katinka nahm sich vor, in Zukunft noch öfter ein bisschen Dampf zu machen. Aber ob es das war, was ihr alle zum Geburtstag gewünscht hatten?
Sie beschloss, noch andere zu fragen.
Plötzlich fiel ihr auf, dass in den Bäumen viele Vögel sangen.
„Ihr Vögel“, rief sie ihnen zu, „weiß einer von euch, was Glück ist?“
„Klar“, erwiderte ein Dompfaff sofort. „Glück bedeutet, ein Lied aus vielen Tönen zu singen. Wenn du genug Töne hast, dann kannst du glücklich sein.“
Das verstand Katinka gut. Oft, wenn Papa nach Hause kam, rief er: „Hast du Töne!“ Und dann sangen sie zusammen alle Lieder, die sie kannten - und das waren viele. Katinka konnte sich kaum etwas Schöneres vorstellen als mit ihrem Vater so laut und froh zu singen. Ob es das war, was ihr alle wünschten?
Aber das brauchte man ihr nicht zu wünschen, das hatte sie ja schon.
Also lief sie weiter, um zu erfahren, was denn nun wirklich das Glück war.
Und dann entdeckte sie einen Frosch, der Riesensprünge machte und dabei immer wieder in dem Graben landete, der neben dem Weg entlanglief.
„Hallo Frosch“, rief sie ihm zu. „Weißt du, was Glück ist?“
Platsch machte es, als der Frosch mitten im Graben landete. Als er wieder auftauchte, drehte er sich zu ihr um. „Was hast du gesagt?“, erkundigte er sich. „Ich habe dich nicht verstanden.“
„Ob du weißt, was Glück ist, hab ich dich gefragt“, antwortete Katinka schnell.
„Und ob!“, quakte der Frosch. „Glück ist das Gelingen von etwas, was man lange geübt hat.
Wenn es mir zum Beispiel gelingt, über den Graben zu springen statt mitten hinein, dann bin ich wirklich glücklich. Ich übe schon den ganzen Tag.“
Das erinnerte Katinka daran, wie sie geübt hatte, eine Schleife in ihre Schnürsenkel zu machen und wie glücklich sie gewesen war, als es ihr endlich gelang.
Jetzt hatte sie schon so viel über Glück erfahren, aber sie war sich noch nicht sicher, ob das, was ihr alle gewünscht hatten, dabei war.
Ein wenig müde legte sie sich ins Gras. Als sie auf dem Rücken liegend in den Himmel schaute, kitzelte sie die Sonne an der Nase und sie musste niesen.
„Sonne, du da oben, was ist Glück?“
Und die Sonne lachte und sagte: „Ist denn das etwas Besonderes? Ich bin immer glücklich. Darum strahle ich immer.“
„Und wenn es regnet?“, wandte Katinka ein.
„Dann kannst du nicht sehen, dass ich strahle, weil du die Wolken siehst, aber ich tu es trotzdem.“
Darüber musste Katinka erst nachdenken.
Beinahe wäre sie dabei eingeschlafen. Darum setzte sie sich lieber hin.
Neben sich im Gras entdeckte sie eine kleine, weiße Feder. Die zitterte ein wenig im Wind. Sie sah so schön aus und Katinka konnte gar nicht aufhören, das zarte Ding anzusehen.
Damit sie nicht gleich davonflöge, fragte sie vorsichtig:
„Feder, weißt du, was Glück ist?“
„Oh ja“, wisperte die Feder. „Glück ist Leichtigkeit. Immer, wenn es leicht geht, dann ist das Glück.“ Und sie ließ sich ganz sacht vom Wind etwas anheben und davontragen.
Ja, es gab Tage, da ging alles leicht. Das hatte Katinka auch schon erlebt. Sie hatte nie darüber nachgedacht. Aber es könnte sein, dass dies gemeint war, wenn ihr alle Glück wünschten.
Plötzlich bemerkte Katinka, dass die Sonne viel tiefer am Himmel stand. Das bedeutete, dass es bald Abend würde. Also machte sie sich auf den Heimweg.
Kurz bevor sie die Pferdeweide erreichte, kreuzte ein Igel ihren Weg. Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, rollte er sich sofort zu einer runden Stachelkugel zusammen.
Sie hockte sich zu ihm und wartete geduldig, bis er sich wieder entrollte.
„Igel“, fragte sie ihn direkt, „was ist Glück?“
„Es ist Glück, dass ich mich zusammenrollen kann und dann völlig geschützt bin.
Glück ist sicher zu sein“, antwortete er. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich muss mich um mein Frühstück kümmern.“ Und schon eilte er davon.
Auch Katinka hatte es plötzlich eilig, denn als der Igel vom Frühstück gesprochen hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie inzwischen großen Hunger hatte und sie außerdem zum Abendbrot zu Hause sein sollte.
Als Mama fragte, was sie den ganzen Tag gemacht hatte, antwortete Katinka: „Ich habe das Glück gesucht.“ „Und, hast du es gefunden?“. wollte Mama wissen.
„Mhm.“ Mehr mochte Katinka jetzt nicht sagen.
Abends in ihrem Bett dachte sie noch einmal über alles nach, was sie am Tag erlebt hatte. Sie dachte an all das, was sie über das Glück erfahren hatte:
Am frühen Morgen barfuß über feuchtes Gras zu laufen,
Dampf zu machen, wenn es losgehen sollte,
mit Papa Töne zu haben zum Singen,
wenn man übte und das dann gelang.
(Über das Strahlen der Sonne wollte sie später nachdenken...)
Und dann dachte sie daran, wie es ist, wenn es leicht geht...
...und wenn man sicher ist.
Wenn es all dieses war, was ihr die anderen wünschten, dann war Glück etwas ganz Wunderbares. Und wenn das Wünschen so gut funktionierte, dann machte es auch Spaß, den anderen Glück zu wünschen.
Unter ihrer Decke rollte sie sich ein wie der Igel, fühlte sich völlig sicher und geschützt und schlief glücklich ein.
© Rosemarie Schrick