Katinka und die Liebe
„Ich hab dich lieb, schlafe gut!“, hatte Mama gestern Abend gesagt, als sie Katinka ins Bett gebracht hatte.
Dass sie gut schlafen sollte, wünschte Mama ihr jeden Abend, wenn sie Katinka zudeckte; aber dass sie sie liebhatte, sagte sie nur manchmal. Schön war das. Alles fühlte sich dann so richtig an.
Aber was genau meinte sie, wenn sie das sagte? Bestimmt bedeutete es, dass Mama sie besonders gern mochte. So wie Katinka ihren Bären Fridolin am liebsten von all ihren Stofftieren mochte.
Aber meinte Papa das gleiche? Und Oma? Und Opa? Und was meinte Papa, wenn er Mama Blumen schenkte und zu Mama sagte: „Für die Frau, die ich liebe.“ Mama strahlte dann immer.
Meinte Papa das so wie sie Leo, der neben ihr in der Schule saß, mochte? Das war aber ganz anders als die Art, wie sie Fridolin mochte.
Katinka hatte sich vorgenommen, herauszukriegen, was es mit dem Liebhaben und der Liebe auf sich hatte.
Und nun war sie unterwegs und traf als erstes wieder das Pferd hinter dem Haus.
Das hatte sie schon einmal gefragt, als sie herausfinden wollte, was das Glück sei und seine Antwort hatte sie gut verstanden. „Hallo,Pferd“, begrüßte sie es wieder und das Pferd hob den Kopf und sah sie an. „Pferd, weißt du, was Liebe ist?“ „Oh ja, natürlich“, wieherte das Pferd ohne lange zu überlegen. „Wenn du jemanden gern trägst, dann ist das Liebe.“ Katinka verstand sofort. Wenn sie Fridolin trug, dann war das also Liebe, den trug sie gern mit sich. Oder wenn Papa sie trug, weil sie zu müde zum Laufen war.
Ja, das war bestimmt Liebe, denn dann fühlte sich alles so richtig an, als wenn Mama „Ich hab dich lieb“ sagte. Aber Mama trug sie fast nie und hatte sie doch lieb.
Es musste noch mehr geben, was Liebe war.
Katinka lief weiter und begegnete wieder einer dicken Wolke. Diese aber war nicht so weiß wie die von damals, diese war ziemlich grau. „Hallo, Wolke“, rief sie wieder hinauf. „Weißt du, was Liebe ist?“ „Natürlich“, pitschte die Wolke und begann ein wenig zu tröpfeln. „Liebe ist Fürsorge. Mit meinem Regen sorge ich dafür, dass alle Blumen und Bäume und Obst und Gemüse gut wachsen können.“
Das kannte Katinka auch. Mama schickte sie manchmal in den Garten und trug ihr auf, die Blumen zu gießen. „Schau, wie traurig sie aussehen, sie brauchen dringend Wasser. Wir müssen besser für sie sorgen“, sagte sie dann oft dazu. Und Katinka nahm sich vor, öfter von selbst an die Blumen zu denken, denn sie mochte Blumen .
Ob es noch mehr gab, was Liebe war?
Und dann entdeckte sie oben in einem Baum einen Vogel, der in einem Nest saß und höchstens mal den Kopf drehte; sonst rührte er sich nicht. „Du Vogel, da im Nest“, rief sie ihm zu, „was tust du da?“ „Ich brüte meine Eier aus und was tust du?“, piepte er. „Ich versuche herauszufinden, was Liebe ist,“ antwortete Katinka, „weißt du es vielleicht?“ „Ja, oh ja“, zwitscherte der kleine Kerl, „ Geduld ist Liebe. Man muss geduldig warten können, wenn man liebt.“
Das hatte Katinka schon oft erlebt. Wie oft geschah es, dass sie auf Mama ewig warten musste, die immer wieder „Gleich. Gleich hab ich Zeit für dich“ sagte. Aber das schien dazu zugehören, wenn man sich liebhatte. Und dann gab es plötzlich eine ganze Ameisenstraße quer über die Straße. Eine Weile sah Katinka den auf und ab eilenden Tieren zu, dann fragte sie mitten hinein in das Gekrabbel: „Weiß eine von euch vielleicht zufällig, was Liebe ist?“ Und tatsächlich hielt eine von ihnen an und erklärte schnell: „Sorgfalt ist Liebe. Siehst du den großen Haufen dort am Wegrand? Den haben wir alle mit sehr viel Sorgfalt aufgebaut, jetzt ist er unser Zuhause. Entschuldige mich, ich muss weiter“, setzte sie hinzu und war schon zwischen all den anderen verschwunden.
Während Katinka einen großen Sprung über die Ameisenstraße machte, um keine von ihnen zu verletzen, dachte sie daran, dass Oma oft sagte „Das hast du aber mit viel Liebe gemacht“, wenn sie sich bei einem Geschenk für sie besonders viel Mühe gegeben hatte und sehr sorgfältig gebastelt hatte.
„Na, bist du auch so ein Springer wie ich?“, quakte es da plötzlich neben ihr. „Dich kenn ich doch, dich hab ich doch schon mal gesehen?“, setzte der Frosch hinzu. „Na, ist ja auch egal, jedenfalls kannst du gut springen, das ist wichtig!“ „Hallo, Frosch“, grüßte Katinka. „Es stimmt, wir haben uns schon einmal gesehen. Damals hab ich dich gefragt, was das Glück ist und heute möchte ich wissen, was Liebe ist. Weißt du das?“
„Na, klar – quak! Mut ist Liebe! Mut zum Springen, das ist Liebe! Du musst mitten hineinspringen. Oder darüber hinweg. Egal, was kommt, spring! Ohne Ausreden, ohne Zögern. Spring mit all deinem Mut, all deiner Kraft! Das ist Liebe! Schau, so!“ Und er machte einen riesigen Satz in die Luft und nach vorn und einen Moment fürchtete Katinka, er habe sich verletzt, als er am Boden aufkam, aber er sprang mit Riesensprüngen munter davon. Katinka dachte an Leo. Der hatte sie eines morgens in der Schule gefragt , ob er neben ihr sitzen dürfte. Das war mutig gewesen. Aber gesprungen war er nicht.
Als Katinka jetzt versuchte, einen noch größeren Sprung als eben zu machen, fiel sie und landete mitten auf der Wiese neben dem Weg. Als sie sich hochrappelte, entdeckte sie neben sich etwas Kleines, Weißes, Sternförmiges. Es sah aus wie ein winziger Schirm oder ein Propeller. „Was bist denn du für einer?“, fragte sie. „Ich bin ein Löwenzahnsamen“, erwiderte das zarte Gebilde. „Und wer bist du und was tust du hier?“ „Ich bin Katinka und ich versuche herauszufinden, was Liebe ist. Weißt du es vielleicht?“ „Liebe ist Vertrauen und Hingabe“, antwortete der kleine weiße Schirm. „Ich weiß das, denn der Wind trägt mich dorthin, wo ich gut wachsen kann und nützlich bin, und ich lasse es geschehen. Manchmal setzt er mich ab, trägt mich dann aber doch ein Stückchen weiter. Ich vertraue immer darauf, dass der Platz, an dem ich lande, richtig ist.“ „Und du fühlst dich überall wohl?“, forschte Katinka. „Wohin der Wind mich trägt,“ sagte der Löwenzahn-samen noch, bevor der Wind ihn wieder erfasste und davontrug. Und Katinka überlegte, dass sie sich jetzt zu Hause so wohl fühlte wie in der alten Wohnung, bevor sie umgezogen waren und damals im Kindergarten so wohl wie jetzt in der Schule. Und ihr fiel auf, dass sie darüber noch niemals nachgedacht hatte, aber dass sie ganz darauf vertrauen konnte, dass Mama und Papa immer einen guten Platz zum Lernen und Leben für sie aussuchten.
Jetzt hatte Katinka schon ganz schön viel über das Liebhaben gehört. Außerdem war es bestimmt schon spät und so machte sie sich auf den Heimweg.
Und kurz bevor sie die Pferdeweide erreichte, entdeckte sie wieder den Igel. Wie bei ihrem letzten Treffen rollte er sich sofort zu einer runden Stachelkugel zusammen. Und wieder hockte sie sich zu ihm und wartete geduldig, bis er sich wieder entrollte.
„Igel, weißt du, was Liebe ist?“, fragte sie ihn. „Oh ja,“erwiderte er, „da kenne ich mich aus. Liebe bedeutet, behutsam zu sein; achtsam, dass man nicht verletzt, wen man liebt.“ Und wie beim letzten Mal fügte er hinzu: „Ich muss weiter, ich hab noch nicht gefrühstückt und mir knurrt der Magen.“ Und so schnell ihn seine kleinen Beine trugen, eilte er davon.
Da merkte Katinka, dass auch ihr eigener Magen knurrte. Sie war ja aber auch schon beinahe zu Hause und bestimmt gab es gleich Abendbrot.
„Na, was hast du heute erlebt?“, fragte Mama, als sie die Tür zur Küche öffnete.
„Ich weiß jetzt ganz viel über das Liebhaben.“ „So so“, machte Mama und sah sie einen Moment merkwürdig an. „Dann wasch mal deine Hände und ruf den Papa, dann können wir Abendbrot essen.“
Und wieder dachte sie vor dem Einschlafen über all das nach, was sie am Tag erlebt hatte und was sie über das Liebhaben erfahren hatte:
Fridolin zu tragen und von Papa getragen zu werden,
für die Blumen zu sorgen, damit sie gut wachsen konnten,
Geduldig zu warten, bis Mama Zeit für sie hatte. Das schien nicht ganz einfach zu sein, das mit der Geduld.
Und dann überlegte sie, wie Oma sich freute, wenn sie die Geschenke für sie ganz sorgfältig bastelte
und dass man Mut brauchte, um jemanden zu fragen, ob man bei ihm sitzen darf.
Sie dachte, wie gut es sich anfühlte, dass sie Mama und Papa ganz vertrauen konnte
und schließlich fiel ihr noch ein, dass es bestimmt wichtig war, wenn man behutsam war und versuchte, niemandem wehzutun.
Ob Mama all das auf einmal meinte, wenn sie sagte „Ich hab dich lieb“? Bestimmt. Mama war so.
Papa auch, aber der sagte es nur selten.
„Ich hab euch auch lieb, Mama und Papa“, flüsterte sie, aber da schlief sie schon fast.
© Rosemarie Schrick