Flitz, der Kirchenmäuserich


Flitz hieß eigentlich Wilhelm Friedemann Fitzgerald. Was für ein Name für einen Mäuserich! Der Name trug sozusagen die ganze Mausefamiliengeschichte der Kirchenmausfamilie Fitzgerald. Denn erstens war ein Urahn väterlicherseits vor vielen, vielen Generationen auf einem Schiff aus Amerika gekommen. Der hieß mit Nachnamen Fitzgerald, was ursprünglich irisch ist und tatsächlich einfach „Sohn des Gerald“ bedeutet. Und zweitens hatte die Familie seiner Mutter seit jeher in der Thomaskirche in Leipzig gelebt. Darum lebte auch die ganze Kirchenmausfamilie Fitzgerald heute noch dort. Sie waren arm, wie Kirchenmäuse nun einmal sind, weil es in Kirchen keine Vorratskammern gibt wie in Häusern oder Scheunen. Aber sie waren stolz, in einer Kirche zu leben, in der der berühmte Johann Sebastian Bach Kirchenmusiker gewesen war und so war der kleine Mäuserich Wihelm Friedemann nach einem der Söhne des Johann Sebastian benannt worden. Gerufen wurde er allerdings nur „Flitz“, weil sich irgendwann einmal irgendjemand einen Spaß daraus gemacht hatte, seinen Namen zu verdrehen und aus „Fitzgerald“ „Flitz, Gerhard“ gemacht hatte. Weil Flitz zudem der schnellste Mäuserich war, den man sich denken konnte, hatte das so gut zu ihm gepasst, dass es einfach von den anderen übernommen worden war. Übriggeblieben war „Flitz“ und so wurde er von allen genannt.
Aber Flitz war nicht nur von allen schnellen Mäusen der schnellste, er war auch besonders musikalisch und er liebte die Musik der ganzen Bachfamilie. Beinahe hätte man denken können, dass sich durch seinen Vornamen etwas von dem musikalischen Schaffen der Bachs auf ihn übertragen hatte. Am meisten liebte er Musik mit Pauken und Trompeten und mit Chören oder überhaupt mit Gesang. Und davon gab es ja in der Bachfamilie jede Menge und in der Thomaskirche erst recht.
Flitz war bei jeder Probe dabei. Er lauschte andächtig, wenn der Organist übte, wenn der Chor sich auf den sonntäglichen Dienst oder eine Aufführung vorbereitete, keine Generalprobe ließ er aus und natürlich erst recht kein Konzert. Es gab Ecken und Winkel genug in der Kirche, in denen er unentdeckt zuhören konnte.
Und Flitz hörte nicht nur zu, er dirigierte auch. Natürlich nur so für sich und von keinem Orchester, Chor oder Dirigenten gesehen. Aber er fand, dass er sehr genau wusste, wie Kirchenmusik klingen musste und es ärgerte ihn manchmal, wenn Dirigenten eine Musik, die er besonders mochte, schneller oder langsamer, leiser oder lauter spielten, als er es für richtig hielt. So gerne wäre er selbst Dirigent und wenn er sich bei einer guten Fee etwas hätte wünschen dürfen, so wäre es das gewesen: Ein Dirigent zu sein!
Eines Tages passierte etwas bei einem Konzert, das wahrscheinlich der Anstoß war dafür, wie sich sein Leben verändern sollte. Wir wissen oft ja erst im Rückblick, wann eine Veränderung ihren Anfang genommen hat.
Während des Konzertes hatte er vor lauter Freude an der Musik immer mehr vergessen, sich versteckt zu halten. So stand er oben auf dem Rand der Kanzel und lauschte völlig selbstvergessen, als die Sängerin gerade „Lobet den Herren“ zu singen begann. Im gleichen Moment hatte sie ihn entdeckt und anstelle von „Lobet den Herren“ quietschte sie ein langgezogenes schrilles „Liiiiieee.... eine Maus!!!“ Hätte sie einfach „Liebet den Herren“ gesungen, wär es dem Herren bestimmt mindestens so recht gewesen, geliebt wie gelobt zu werden, vielleicht hätte er sich sogar gefreut - wer weiß das schon. Aber sie sang gar nicht mehr, sondern war einfach in Ohnmacht gefallen. Das Konzert wurde unterbrochen und es herrschte eine Riesenaufregung.
Flitz hatte das Geschehen mit Fassungslosigkeit verfolgt. Fassungslos und ungläubig, weil er es erstens unmöglich fand, bei dieser Musik einfach loszukreischen und weil er zweitens ihren Ausruf „eine Maus!!!“ nicht verstand. Eine Maus, na und? Was war an einer Maus so besonders, dass man deswegen hätte umfallen und ein solches Konzert unterbrechen müssen?!
Aber es kam noch schlimmer! Zwar wurde das Konzert später fortgesetzt, aber am nächsten Tag wurden drei fürchterliche Mausfangkatzen in die Kirche geschickt, damit sie die Mäuse fingen (denn wo eine ist, da sind bestimmt auch noch mehr!) und so eine Katastrophe wie in dem letzten Konzert nicht wieder passieren könnte.
Nicht nur Flitz war empört. Nein, seine ganze Familie schimpfte, allerdings nicht auf die Katzen, sondern mit ihm, weil er so unvorsichtig gewesen war. Und sie sagten, dass ihnen seine ganze Musikliebe auf die Nerven ginge und sie alle nur in Gefahr bringe. Flitz war verwirrt und traurig. Waren sie nicht Nachfahren der Kirchenmäuse, die schon zu Johann Sebastian Bachs Zeiten diese Kirche bewohnt hatten? War nicht seine ganze Familie immer so stolz darauf gewesen?
Hatte man ihn nicht nach einem der Söhne Bachs benannt?
Davon aber wollte jetzt niemand mehr etwas wissen. Zu groß war die Angst vor den drei fürchterlichen Mausfangkatzen.
Es war eine schlimme Zeit für die Familie Fitzgerald. Nicht, dass die Katzen hätten Flitz fangen können, dafür war er viel zu schnell. Aber der Rest der Familie traute sich überhaupt nirgends mehr hin und wenn es irgendetwas zu besorgen gab und sei es eine Oblate, weil der Hunger allzu sehr quälte, so musste immer Flitz lossausen, um sie zu besorgen.
Nach einer Woche allerdings nahm man an, dass die Katzen ihren Dienst getan hätten und entfernte sie wieder aus der Kirche.
Familie Fitzgerald atmete auf und Mutter Fitzgerald verbot Flitz, sich jemals noch ein Konzert anzuhören.
Das schien Flitz ganz und gar unmöglich. Verzweifelt strich er manchmal durch die Kirche, wenn sie leer war, blieb an Plätzen sitzen, wo er früher der Musik gelauscht hatte und träumte davon, endlich wieder seine Musik hören zu dürfen. Natürlich konnte er sie in der Mausewohnung auch hören, aber leise nur, entfernt und niemals so unmittelbar, wie er es liebte. Flitz glaubte, nie wieder richtig froh werden zu können. Was war denn ein Leben wert, dass man nicht inmitten von Musik verbringen konnte?
Und so kam es, dass er eines Tages doch wieder einer Probe beiwohnte. Ach, war das schön! Am liebsten wäre er noch viel weiter nach vorn gegangen, aber er wagte es nicht.
Und dann kam eine Lieblingsstelle aus einer Kantate, in der alle Trompeten und Pauken so richtig loslegen durften. Erwartungsvoll schloss Flitz die Augen. Aber sowohl die Trompeten als auch die Pauken schienen zu schlafen. Da, wo sie hätten alles geben müssen, erklang ein müdes Blasen und ganz sachte Schläge auf der Pauke. Und der Dirigent unterbrach nicht! Er ließ es so geschehen!
Da war es plötzlich um Flitzens Beherrschung geschehen. Bevor er nachgedacht hatte, dass ihn dies das Leben kosten könnte, war er am Dirigentenpult hinaufgesaust, stand auf den Notenblättern der Partitur, fuchtelte wild mit den Pfoten und schrie laut: „Stopp, so geht das doch nicht!“ Das Orchester hörte ihn gar nicht, sah aber eine wild winkende Maus auf dem Pult des Dirigenten, der seinerseits seinen Augen nicht traute. Alle Trompeter, Geiger, Paukisten, Cellisten und Flötisten hörten auf zu spielen und brachen stattdessen in schallendes Gelächter aus. So etwas Komisches hatten sie noch nie gesehen!
Erst da wurde Flitz bewusst, was er getan hatte. Starr vor Schreck über die eigene Kühnheit verharrte er mitten in der Bewegung, stand da mit erhobenen Pfoten und rührte sich nicht.
Zu seiner größten Überraschung fragte ihn der Dirigent, nachdem sich das Gelächter beruhigt hatte, was er denn meinte und wer er überhaupt sei. Eine lange Sekunde überlegte er, seinem Spitznamen alle Ehre zu machen und davonzusausen, so schnell er konnte. Aber dann machte er seinem ganzen, seinem richtigen Namen alle Ehre. Er richtete seinen Rücken sehr gerade auf, stellte sich vor und sprach ungefähr so:
„ Ich bin Wilhelm Friedemann Fitzgerald, meine Familie wohnt seit allen Generationen hier in der Thomaskirche, ich wurde nach einem der Söhne Bachs benannt und ohne Musik kann ich nicht leben.“ Dann holte er noch einmal ganz tief Luft und fügte hinzu: „Und mein größter Wunsch ist es, Dirigent zu sein!“ Ganz leise aber setzte er hinzu: „Auch wenn ich eine Maus bin.“
Dieses Mal lachte niemand. Verblüfft, ungläubig und schließlich gerührt hatten die Musiker ihm zugehört. Er erzählte schließlich auch noch die ganze schreckliche Geschichte von der Sängerin und den Folgen, die das für seine Familie und für ihn gehabt hatte.
Und dann geschah das, was Flitz sich in seinen schönsten Träumen kaum hatte vorstellen mögen.
„Wie würdest du diesen Teil denn spielen lassen?“, fragte ihn der Dirigent. Da verstand er endgültig, dass dies die Chance seines Lebens war und er zögerte keinen Moment, um zu erklären: „Leuchtend, strahlend, freudig. Pauken und Trompeten müssen alles geben, sie dürfen nichts zurückhalten!“ Und der Dirigent überlegte lächelnd und fragte dann. „Möchtest du es einmal versuchen?“ Und als Flitz, der vor Freude gar nicht sprechen konnte, nickte, fragte der Dirigent den Chor und das Orchester, ob sie denn Flitz überhaupt gut genug sehen könnten und ob sie bereit wären, einen Mäuserich für einmal als Dirigenten zu akzeptieren. Sie waren tatsächlich einverstanden.
Das Pult des Dirigenten wurde etwas höher eingestellt und Flitz begann zu dirigieren. Er dirigierte mit seinem ganzen Körper, mit seiner ganzen Seele, mit allem, was ihn ausmachte. Er vergaß, wer er war und wo er war und war ganz nur Musik.
Danach war es ganz still. Eine erstaunlich lange Zeit.
Und dann applaudierte das Orchester begeistert und der Dirigent drückte Flitz lange die Pfote.
Der Rest ist schnell erzählt. Flitz bekam einen Ehrenplatz auf dem Dirigentenpult, durfte bei jeder Probe und jedem Konzert dabei sein, durfte sogar manchmal dem Dirigenten sagen, wie er etwas spielen lassen würde und war von da an der glücklichste Mäuserich, den sich irgendjemand überhaupt vorstellen kann.

                                                                                 © Rosemarie Schrick