Der kleine Wolf, der der Stärkste sein wollte
Es war einmal ein kleiner Wolf, der in einem großen schönen Wald lebte. Seine Mutter, die ihn von Herzen liebhatte, hatte ihm aufgetragen, alles zu tun, um ein wirklich starker Wolf zu werden, weil das ihrer Meinung nach nötig war, um ein guter Wolf zu sein.
Also übte der kleine Wolf täglich alles, was stark macht: er lief viele Runden durch den Wald, fing Stöcke im Sprung, die seine Geschwister für ihn warfen und kämpfte und raufte mit seinen Brüdern.
Eines Tages fiel ihm ein, dass er unbedingt herausfinden wollte, wer der Stärkste im Wald war.
Gesagt, getan und schon ging er los, um andere Tiere danach zu fragen, wer wohl der Stärkste sei. Von dem wollte er dann lernen.
Die erste, die er traf, war eine kleine Maus. „Guten Tag, Maus“; sagte er höflich. „Weißt du, wer der Stärkste in unserem Wald ist?“ „Na klar“; antwortete die kleine Maus und wurde gleich ein bisschen größer. „Ich bin das! Ich bin die Stärkste im ganzen Wald!“ „Wie ist das möglich?“, fragte der erstaunte kleine Wolf. „Du siehst tatsächlich gar nicht so stark aus.“ „Aber es gibt nichts, aber auch gar nichts, das ich nicht zerfressen könnte. Wenn ich erst einmal anfange zu nagen, bleibt nichts übrig. Finde irgendjemand außer mir, der das kann!“ „Aber ich könnte doch dich fressen, oder?“ fragte der kleine Wolf harmlos. Aber die Maus war schon verschwunden, bevor er auch nur seinen Satz beendet hatte.
Als er seinen Weg durch den Wald fortsetzte, traf er ein kleines Eichhörnchen. „Hallo, Eichhörnchen“, grüßte er. „Weißt du, wer der Stärkste in unserem Wald ist?“ „Natürlich weiß ich das! Ich!“, erwiderte das Eichhörnchen und zeigte seine großen Zähne. „Du wirst niemanden finden, dessen Zähne so stark wie meine sind. Es gibt hier niemanden , der so leicht Nüsse knacken kann wie ich, sogar die härtesten. Guck!“ Und damit nahm sich das Eichhörnchen eine besonders große, schrecklich harte Nuss und knackte sie, als wenn nichts in der Welt leichter wäre. „Aber ich könnte dich doch fressen?“, erkundigte sich der kleine Wolf. „Nicht hier oben“, rief das Eichhörnchen und verschwand flink den Baum hinauf.
Später, während er weiter durch den Wald lief, berührte sein Fuß plötzlich etwas Warmes und Weiches. Als er nach unten blickte, erkannte er ein kleines Tier. „Wer bist denn du? So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen.“ „Oh, ich bin ein Maulwurf“, erklärte der Kleine aus einem Loch im Boden, „und du hast mich gerade am Kopf getreten,“ fügte er empört hinzu. „Das tut mir leid, es war keine Absicht“, entschuldigte sich der kleine Wolf. „Und weißt du, wer hier im Wald der Stärkste ist?“, forschte der kleine Wolf weiter. „Ja, sicher. Das bin ich.“ „Bist du denn nicht zu klein, um der Stärkste zu sein?“ Der kleine Wolf traute seinen Ohren kaum. „Jaja, ich bin wohl klein“, antwortete der Maulwurf ärgerlich, „ aber ich bin doch der Stärkste. Schau dir meine Pfoten an. Niemand könnte solche Tunnel so gut und so schnell graben wie ich. Ich mache Tag und Nacht nichts anderes als Tunnel zu graben. Ich habe ein ganzes Tunnelsystem tief unter dem Waldboden gegraben, sozusagen im Untergrund. Du musst schon der Stärkste sein, wenn du das schaffen willst!“Stolz beendete der Maulwurf seine lange Erklärung. „Aber wenn du der Stärkste bist und wenn es niemanden gibt, der stärker ist als du, nicht einmal ich - heißt das, dass ich dich nicht fressen könnte?“, fragte der kleine Wolf ungläubig. „Nicht hier unten“, war die Antwort und der Maulwurf tauchte hinunter in die Erde.
Der nächste, den er traf,war ein Vogel. Der dachte, er wäre der Stärkste, weil er in der Lage war, sein eigenes Gewicht nur mit der Kraft seiner Flügel zu tragen. Aber als der kleine Wolf fragte, ob er ihn fressen könnte, um herauszukriegen, ob er stärker wäre, flog er einfach fort.
Danach traf er einen Hasen. Gefragt,wer der Stärkste im Wald war, antwortete der Hase: „Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau, aber ich bin ganz sicher der Schnellste. Soll ich es dir einmal zeigen?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten - huii – war er auf und davon.
Dann traf er einen Fuchs, der meinte, listig zu sein bedeutete einen starken Geist zu haben. Also müsste er wohl der Stärkste sein. Als der kleine Wolf fragte, ob er von einem Wolf gefressen werden könnte, murmelte der Fuchs so etwas wie: „Ja, vielleicht von erwachsenen Wölfen.“ Da entschied der kleine Wolf, ihn später in seinem Leben wiederzutreffen, um das herauszukriegen.
Schließlich traf er einen Bären. Das war ganz offensichtlich das stärkste Tier im Wald, da war sich der kleine Wolf ganz sicher. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es jemanden gäbe, der freiwillig gegen ihn kämpfen wollte. Er schien beinahe unverwundbar zu sein. Aber er wollte trotzdem eine Antwort bekommen. „Guten Tag, Bär, bist du der Stärkste im Wald?“ Bewundernd sah er an dem Bären hoch. „Natürlich bin ich das“, sagte der Bär. „Du wirst nirgends jemanden finden, der so stark ist wie ich. Ich bin der Stärkste. Ich bin schon immer der Stärkste gewesen und es gibt niemanden, der mich auch nur verletzen könnte.“ Der kleine Wolf war ganz glücklich, endlich das stärkste Tier im Wald gefunden zu haben. Gerade wollte er den Bären fragen, wie man so stark werden konnte, da tauchte die Frau des Bären auf. „He, du Faulpelz, hast du endlich etwas zum Fressen für deine Kinder besorgt? Oder willst du, dass sie verhungern? Was stehst du da herum und redest dummes Zeug?“ Fast sah der Bär aus, als ob er etwas kleiner würde. „Sprich nicht so mit mir. Das tut hier drinnen weh“, bat er seine Frau und tippte sich auf die Brust. „Ach, sei ruhig!“, rief die Bärin und der Bär zog es offenbar vor, nicht zu antworten. Aus irgendeinem Grund war der kleine Wolf nicht mehr so sicher, dass der Bär der Stärkste war und so setzte er seinen Weg fort.
Der Tag war fast vergangen und die Dämmerung brach schon herein. Der kleine Wolf wurde müde. Unzufrieden mit dem, was er erreicht hatte, wanderte er weiter.
Da traf er plötzlich einen alten Raben. Einige seiner Federn waren gebrochen, andere waren grau. Insgesamt sah er ein bisschen zerzaust aus. Aber seine Augen waren hell und wach und er schien guter Dinge zu sein. Also stellte der kleine Wolf wieder seine Frage, die er so oft schon gefragt hatte: „Guten Abend, alter Rabe, weißt du vielleicht, wer der Stärkste hier im Wald sein könnte?“
Aber der Rabe schüttelte langsam seinen Kopf. „Nein, ich habe keine Ahnung“, antwortete er nachdenklich. „Aber ich habe auch noch nie darüber nachgedacht. Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann.“ „Aber was ist mit dir? Bist du nicht stark?“ „Doch, wahrscheinlich, irgendwie. Ich bin mir da nicht so sicher.“ Der alte Rabe schien nicht besonders interessiert daran, herauszufinden, ob und wie stark er wirklich war. „Bedeutet das, dass ich dich fressen könnte?“, fuhr der kleine Wolf fort zu fragen. „Ja“, antwortete der Rabe bedächtig, „wenn du hungrig wärest, könntest du mich fressen. Das ist wahr.“ „Aber das würde bedeuten, dass du sterben würdest!“, rief der kleine Wolf aus. „Ja, auch das ist wahr.“ Der Rabe blieb gelassen. „Dann wäre ich tot.“ „Aber wenn du keine Angst vor dem Sterben hast, dann hast du doch vor gar nichts Angst?“ Das schien dem kleinen Wolf schwer zu glauben. „Das ist richtig, kleiner Wolf, es gibt nichts, wovor ich mich fürchte“, nickte der Rabe.
„Aber das bedeutet ja, dass du der Stärkste bist von allen, die ich jemals traf!“ Dem kleinen Wolf wurde klar, dass er endlich am Ziel seiner Reise angekommen war. „Ich möchte hier bleiben und von dir unterrichtet werden, wie man furchtlos wird“, bat er.
Der alte Rabe hatte nichts dagegen und so blieb der kleine Wolf bei ihm, bis er verstanden hatte.
© Rosemarie Schrick