Der Schmetterling, der Trompetenmusik liebte


Er erwachte, weil es hell war und warm. Es war aber nicht nur die äußere Helligkeit oder die Wärme, die ihn geweckt hatten. Es war ein Klang, der so hell strahlte und gleichermaßen so warm und dunkel zu ihm drang und dem er nicht widerstehen konnte.
Er war beim Erntedankfest hierhergekommen, in einem Hopfenstrang, aber daran hatte er keine Erinnerung.
Jetzt war er aus einem tiefen Schlaf erwacht. Mühsam kroch er in die Richtung, aus der der Klang gekommen war. Die Beine waren noch so schwer und ungelenk. Die Töne, die ihn geweckt hatten, waren verklungen. Aber es gab andere, die auch schön waren. Zu denen machte er sich auf den Weg. Immer wieder musste er Pause machen, die Flügel entspannen. Dann spannen, wieder zusammenklappen. Dann wieder ausruhen. Horchen. Aber das, was ihn im Innersten berührt hatte, was ihn aus seiner Verpuppungsstarre gelockt hatte, war verstummt.
Dann war es plötzlich wieder da. Es hob ihn hoch in den Raum. Die Flügel hatten sich ganz von allein ausgebreitet und trugen ihn, wie ihn diese Töne trugen, die so sanft und dabei so stark waren. Was für ein Gefühl, leicht, froh, eins mit dem Raum, den er erfuhr.
Der Ton verklang erneut. Seine Flügel waren noch ungeübt und nicht stark genug. Er taumelte, versuchte sich zu fangen und landete, Zufall oder Fügung, genau dort, woher der Ton gekommen war. Dort, auf der linken Brusttasche des Trompeters, saß er genau in Höhe seines Herzens. Da wollte er von nun an bleiben. Aber er merkte schnell, dass dieser Platz nicht so geeignet war. Das Herz schlug einen Moment irritiert unruhiger als es das bei seiner Landung getan hatte. Also krabbelte er über die Schulter des Musikers auf dessen Rückseite und blieb dort, wiederum in Herzenshöhe, sitzen. Nie wieder würde er von hier fortgehen!
Der Musiker aber wollte ihn nicht immer bei sich haben. Wie hätte er auch auf einen Schmetterling aufpassen können! Also musste der für sich selbst sorgen. Unbeobachtet schlüpfte er in das Schallstück der Trompete und dort verhielt er sich still.
Als der Trompeter das nächste Mal das Instrument zur Hand nahm, verließ er sein Versteck und spannte wieder seine Flügel, schwang sich, getragen, gehalten von dieser Musik, in den Raum. Er liebte das Gefühl der Schwerelosigkeit, liebte es, in der Musik seine Körperlichkeit und Endlichkeit zu vergessen und nur diesen warmen, klaren Klang zu spüren.
Wieder und wieder verbarg er sich in dem Instrument und der Trompeter, der anfangs überrascht war, wenn der kleine Falter unerwartet bei jedem Üben und jedem Konzert wieder auftauchte, gewöhnte sich an dessen Beharrlichkeit. Nach und nach genoss er sogar die Nähe des bunten Fliegers. Der begann, immer häufiger, wenn er müde wurde, sich dort niederzulassen, wo er am liebsten war, wenn er nicht flog: in der Nähe des Herzens des Musikers.
Viel später saß er bei Konzerten dort, wo früher die Krawattenschleife des Meisters gewesen war, genau in der Mitte zwischen dem Herzen, wo der Ton entstand, und dem Instrument, von wo der Ton hinaus in die Welt ging.
Konzertbesucher dachten, dass die Fliege, die der Virtuose trug, zwar klein, aber doch sehr extravagant sei. Die Dinge sehen eben von außen oft ganz anders aus. 

                                                                                                                                                              Rosemarie Schrick