Nach der Probe
Nach der Generalprobe des Blechbläserensembles hingen die Töne in der Luft.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ein A des Waldhorns.
„Wir verflüchtigen uns, wie immer“, sagte ein B der Bassposaune.
„Ich finde es nicht schön, immer so schnell zu vergehen,“ maulte ein D, das aus einer Tenorposaune gekommen war.
„Wir sind vergänglich, wie alles vergänglich ist.“ Das war ein Paukenton gewesen. Es hatte nicht so viele von ihnen gegeben in dieser Konzertprobe, aber was sie äußerten, traf immer genau.
Sie hatten etwas ernsthaft Forderndes, diese Töne der Pauke: etwas Drängendes, das aber auch Mut machte.
„Ich weiß“, sagte das D, „aber ein wenig länger wäre ich schon gern da. Ich möchte etwas bewirken!“
„Oh, das tust du bestimmt“, tröstete das hohe C einer Bachtrompete. „Wir alle tun das. Wir werden doch gehört und das bewirkt etwas bei denen, die uns hören.“
„Ich bin mir da nicht so sicher.“ Das war das H einer anderen Trompete. „Ich habe von einem gehört, der einmal versucht hat, in das Herz eines Hörers zu gelangen, aber das war ganz schwierig. Bis zu den Ohren kam er, aber von dort wurde es wirklich mühsam.“
„Ich habe gehört, in den Herzen der Hörer sei es eng und dunkel. Dann löse ich mich lieber hier in der Freiheit auf.“ Es war das A des Waldhorns, das so gesprochen hatte.
„Oh, ich hörte, dass es hell in den Herzen sei und wenn es das einmal nicht sei, so würde bei unserem Kommen gleich Licht für uns gemacht, damit wir uns besser zurechtfinden.“ Nun war es wieder das hohe C der Bachtrompete, das so sprach.
„Das liegt daran, dass du so hell bist. Wo du hinkommst, wird es einfach hell“, erklärte einer dieser klugen Paukentöne, worauf das hohe C ein ganz klein wenig errötete, so gut man halt als Ton erröten kann. Manchmal verliebten sich Paukentöne ein wenig in Töne der Bachtrompete, weil diese so hell erstrahlten und weil sie nach Ansicht vieler Paukentöne so gut zueinander passten.
Und manchmal verliebten sich auch die hellen Töne der Bachtrompete in die pochenden Klänge der Pauke.
„Und was machen wir nun?“, fragte erneut das A des Waldhorns.
„Unerhört verklingen wir!“ Die Töne der Tuba hatten oft einen ganz eigenen Humor.
Plötzlich wurde das D der Tenorposaune ganz munter. „Warum nehmen wir uns nicht vor, tiefer als bis zu den Ohren der Hörer vorzudringen? Könnten wir es nicht wenigstens versuchen?“
„Ha,“ machte da das E einer Altposaune. „Und kaum versuchen wir das, schon kommen all diese anderen groben Töne, die entstehen, wenn viele Menschen klatschen. Die verscheuchen uns im Nu!“
„Wir müssen eben schneller sein! Berühren, bevor die Meute kommt.“ Es war das erste Mal, dass sich das F der Bassposaune meldete.
„Wir könnten uns verteilen,“ schlug überraschend das H der Trompete vor, das vorhin noch so skeptisch gewesen war.
„Ich gehe in einen Bauch,“ brummte ein Ton der Tuba.
„Ich gehe in einen Kopf, damit es dort hell wird,“ entschied ein Fis der Bachtrompete.
„Oh ja, und ich in ein paar Augen, damit die besser sehen können,“ ergänzte ein D einer Bachtrompete.
„Das ist nicht immer so. Ich habe schon gesehen, dass Augen bei Konzerten anfingen zu tropfen, sie sehen dann noch weniger als sonst,“ wandte das A des Waldhorns ein.
„Das passiert, wenn Töne ins Herz gelangen, dann läuft es manchmal über und dann tropfen die Augen.“ Ein Paukenton, natürlich. „Ich hätte Lust, in die Füße zu gehen oder – doch lieber ins Herz, ein bisschen den Lebensrhythmus unterstützen,“ sinnierte er weiter.
„Oh ja, ins Herz, ins Herz, da will ich auch hin,“ tönte es plötzlich von allen Seiten.
„Wir passen nicht alle so schnell durch die Ohren und der Weg zum Herzen ist schmal,“ das H der Trompete glaubte, was es einmal gehört hatte.
„Das macht nichts,“ sagten da der Paukenton und das C der Bachtrompete wie ein Ton. „Wir gehen einfach durch jede Pore gleichzeitig.“
„Aber die Herzen sind zu klein für uns alle, wir werden nicht hineinpassen,“ wieder war es das A des Waldhorns, das Einwände hatte.
„Wir werden sehen.“ Diesmal waren es die Töne der Tuba und der Pauke, die beinahe im gleichen Moment tönten.
Und so beschlossen sie, alle zusammen in die Herzen der Konzertbesucher zu gelangen.
Bei dem Konzert, das der Generalprobe folgte, eilten, drangen, flogen sie in die Herzen der Zuhörer.
Alle auf einmal.
Das war zutiefst erschütternd für die Hörer. Und natürlich waren die Herzen zu klein. Aber sie wurden weich und weit und gaben nach und konnten mehr und mehr fassen, bis sie schließlich überliefen und die Augen, die zu den Herzen gehörten, anfingen zu tropfen.
Es sei noch gesagt, dass die Lauschenden so spät applaudierten, dass sich die Musiker ein wenig wunderten. Aber die Menschen hatten erst warten müssen, bis auch der letzte Ton innen drin verklungen war.
© Rosemarie Schrick