Kinderstube bei Blässhuhns

Mehr als zwanzig Tage bin ich jeden Morgen und jeden Abend, an dem es mir möglich war, zum See gefahren, um geduldig darauf zu warten, dass die Blässhuhneier endlich fertig ausgebrütet sind und ihre niedlichen, winzigen Bewohner freigeben.
Jetzt endlich ist es soweit und die kleinen Flaumbällchen machen ihre allerersten Erfahrungen in dieser Welt. Hinreißend sehen sie aus, von leuchtendem Rot die kahlen Köpfchen mit zwei schwarzen Streifen, die sich über den Kopf ziehen und an Rallyestreifen erinnern und weißen Schnabelspitzen, stecken sie in einem an Pelz erinnernden Flaumfederkleid, aus vielen härchengleichen Federn, am Hals etwas länger und gelb gefärbt, was aussieht wie ein echter Fellkragen, das sich deutlich gegen das Schilf und die dunkle Wasseroberfläche abhebt. Fasziniert mache ich Hunderte von Fotos, bin weiterhin jeden Morgen und Abend am See und beobachte beim Fotografieren, wie die Winzlinge vom Morgen zum Abend und vom Abend zum nächsten Morgen Neues erlernen und beginnen, sich in ihrer noch begrenzten Wasserwelt zurechtzufinden.

Heute ist schon Samstag und ich bin später am See als sonst. Üblicherweise bin ich niemals später als sieben Uhr am Morgen dagewesen und natürlich waren die kleinen Knäuel schon wach und hungrig. Heute ist es schon acht Uhr, eines der Blässhuhneltern, bestimmt der Vater, vertreibt eine zudringliche Ente, indem er mit wildem Flügelschlagen auf sie losgeht. Aber der Rest der Familie schläft! Oder besser gesagt, die Kinder schlafen! Wie viele Menscheneltern würden sich wünschen, dass ihre Kleinstkinder samstags etwas länger schliefen!

Blässhuhnkinder tun das einfach.
Gestern Abend noch tobten die drei kräftigsten mit dem Vater (dass es der Vater ist, denke ich, weil er in meinem altmodischen Rollenverständnis derjenige ist, der für die Abenteuer zuständig ist) ein wenig entfernt vom Nest auf dem See. Vater baute in aller Eile eine kleine Insel aus Schilf und Stöcken für die drei kraftvollen Kleinen, damit Mutter mit dem vierten, dem Kleinsten noch das Nest hüten konnte. Bestimmt kommt das „Nesthäkchen“ daher. Die drei können nicht nur schwimmen, das können sie ja sofort nach dem Schlüpfen. Sie hüpfen und trampeln auf ihrer neuen Insel herum, dass es eine Lust ist, ihre Freude am Ausprobieren zu beobachten. Außerdem schauen sie höchst interessiert zu, wie Papa die Nestinsel baut. Ich bin sicher, dass nicht nur diese Hühnchen die wirklich wichtigen Dinge fürs Leben sehr früh von ihren Eltern lernen, zudem nicht durch Belehrung, sondern sehr schlicht durch Machen und dadurch Zeigen, wie es geht.
Heute nun schlafen sie also aus. Aber nachdem die Ente vertrieben ist, regt sich doch das ein oder andere Köpfchen unter Mutters Federkleid und lugt ein bisschen heraus. Das ist für Vater das Signal fürs Frühstück. Aber da gibt es keinen Würmerbäcker, bei dem man mal schnell eine Tüte Würmer, so wie andere Leute Brötchen, holen könnte. Jedes „Brötchen“ muss einzeln geholt werden und der Appetit der nun vollends erwachten Blässhuhnkinder reicht weit über ein „Brötchen“ pro Schnabel hinaus. Vater saust, sobald er fündig geworden ist, so schnell über den See, dass er eine richtig dicke Bugwelle vor sich herschiebt. Und dann sehe ich, dass die ersten Happen ihre Wirkung tun und die Küken, frisch gestärkt, einer nach dem anderen den äußeren Nestrand mit zum Halten der Balance ausgebreiteten, ungefähr eineinhalb Zentimeter langen Flügeln, hinab in den See gleiten. Jetzt sind es vier, die sich in neue Abenteuer stürzen und immer noch bleibt eines zu Hause. Also gibt es fünf! Und noch immer ist aus einem Ei niemand geschlüpft, kann ja aber noch passieren.
Eine Zeit lang beobachte ich das bunte Treiben, bunt, weil die roten Köpfchen sich mit dem blauen Himmel und dem grünen Schilf im Wasser um die Wette spiegeln – was für eine Farbenpracht! Dann beschließe ich, zunächst selbst zu frühstücken, mir das Frühstück heute vielleicht auch servieren zu lassen, in der Sonne, am See und später zurückzukommen, um noch ein paar Aufnahmen zu machen.
Kaum kann ich mich losreißen vom Anblick der kleinen, bettelnden Federknäuel und den eifrigen Eltern, die ohne Unterlass nach Nahrung suchen. Plumps, wieder abgetaucht unter Hinterlassung in schönsten Formen aufspritzenden Wassers und sich kräuselnder Kreise, die neue Farbnuancen mit sich bringen. Plopp, wieder aufgetaucht mit einem Schnabel voller Tang oder einem verhältnismäßig zu der Kleinheit der Küken riesig fetten Wurm. Ganz nebenbei kommt mir der Gedanke, dass ich, wenn ich im See schwimme, mit diesen Würmern im Wasser bin. Klar, werden Sie sagen, wo Wasservögel und Fische sind, gibt es natürlich auch fette Würmer. Stimmt, Sie haben ja Recht; ich hatte halt bisher nicht so genau darüber nachgedacht.

Also frühstücken! Es wird doch Brötchen geben?!

Als ich zurückkomme, sind doch plötzlich alle Fünf im Wasser, auch Mutter hat das letzte Ei vorerst sich selbst überlassen, um dem nicht enden wollenden Appetit ihrer Rasselbande, oder sollte ich lieber Piepsbande sagen, gerecht zu werden. Unermüdlich tauchen Vater und Mutter ab und wieder auf, füttern, vergewissern sich, dass alle in der Nähe sind, lassen denen Raum zum eigenständigen Entdecken, die nicht mehr so bedürftig sind und tauchen erneut kopfüber ins Wasser. Ebenso unermüdlich betteln die kleinen Federbälle, schwimmen einzeln oder zu zweit, manchmal sogar zu dritt demjenigen Elternteil entgegen oder auch hinterher, von dem sie wissen oder vertrauend annehmen, dass er Nahrung mitbringt. Längst ist auch mit meinem Rollenverständnis nicht mehr zu unterscheiden, wer Vater und wer Mutter ist: Die beiden sind einfach Eltern geworden, deren gemeinsame Aufgabe zur Zeit ausschließlich darin besteht, die Bande heil großzukriegen, die einfach tun, was sie tun müssen, mit aller Hingabe, riesigem Eifer und ohne den leisesten Zweifel oder den Anspruch eigener Verwirklichung .
Vorbei die Zeiten, in denen sich der eine ausgiebigster Morgen- und Abendtoilette hingeben konnte, während die andere brütete.
Vorbei die Zeiten ausgedehnter Spazierschwimmen über den See, während die andere brütete. Vorbei die Zeiten, in denen es genügte, mit einem Halm als Geschenk für kurze Zeit Nestablösung anzubieten und das Brüten umständlich zu übernehmen, um nach kurzer Zeit wieder frei zu sein.

Jetzt gibt es für beide gleichermaßen viel Arbeit und das gemeinsame Ziel, dass die Aufzucht gelingen möge.

Mir fällt die Geschichte von dem strengen König ein, gefürchtet von seinen Untertanen, der eben diese wissen ließ, dass er eines seiner eigenen Kinder gegen eines aus dem Volke getauscht habe, nicht aber verriet, welches es wohl sei. Und der bei Androhung von Strafe befahl, dieses Kind besonders gut zu behandeln. Natürlich hatte dies zur Folge, dass jedes Kind wie ein Königskind behandelt wurde, jedem Fürsorge, Erziehung und Bildung zukam, wie es einem Sprössling des Königs gebührte, weil niemand wusste, welches das Königskind war. Hierdurch wiederum zogen Wohlstand und Glück bei seinem bis dahin armen und unzufriedenen Volk ein.

Könnte man sagen, dass diese Blässhühnchen in der Weise groß werden wie Königskinder, wie die Kinder jenes Volkes? Sie lernen unter dem liebevollen, ganzen Einsatz ihrer Eltern, was sie lernen müssen, um das Leben zu bestehen und sich darin zurechtzufinden. Was braucht ein Kind denn sonst?

So denke ich für mich, beobachte, mache Bilder.
Und plötzlich wird eines der Küken heftig von einem Elternteil gezwickt. Mit dem Schnabel am Hals gezwickt, dort, wo es bestimmt sehr zu spüren ist. Offenbar hat es sich schlecht benommen, die zuvor ausgesandten Signale des zwickenden Elternteils nicht wahr- oder ernstgenommen. Auch das ist Teil der Erziehung: Zwick – Grenzen – Zwick – Konsequenz. Und ein anderes schmiegt sich im gleichen Moment an Vater oder Mutter, wer immer es auch ist. Wer kennt das nicht, der Kinder oder zumindest Geschwister hat? Wenn eines frech war und bestraft wurde, war bestimmt ein anderes das liebste Kind!

Aber anders als es bei Menschen häufig zu beobachten ist, gibt es hier keine Diskussion, kein Übergehen schlechter Manieren mit der Begründung: „Es ist ja noch so klein“.

Was jetzt gelernt werden kann, wird jetzt gelernt. Werte sind hier nicht verhandelbar, sondern lebensnotwendig. Ist das bei Menschen denn nicht auch so? Jedenfalls, wenn es gut geht?
Und weiterfüttern. Keine Maulerei seitens eines Elternteils oder des Kindes. Lektion verstanden, weiterschwimmen, Welt erfahren. Das Leben ist spannend, es gibt viel zu entdecken und der Hunger ist groß.

Viel später mache ich mich auf den Heimweg, dankbar für die Bilder, die ich mitnehme: auf der Speicherkarte meiner Kamera wie auch im Herzen und leise schmunzelnd über die Lektion in Sachen Kindererziehung.

                                                                                            Rosemarie Schrick