Eine Igelgeschichte
Beinahe kann ich es nicht glauben!! Ich bin frei!! Die Welt ist wieder groß!
Wie weich die Nachtluft ist.
Wie still und doch voll lockender Geräusche.
Hatte ich jemals zuvor bemerkt, in welches Licht ein Sichelmond den Garten taucht?
Und wie es riecht...nach Erde und Laub und...und...Verheißung. Erde und Laub, das kenne ich, das befreit und befriedet die Nase und vermittelt dieses Gefühl, dass alles in Ordnung ist, dass ich genau dort bin, wo ich sein möchte und wo ich hingehöre. Aber dieser andere Duft...für den ich keinen Namen kenne außer Verheißung, den kenne ich noch nicht und der ist so unbeschreiblich süß und dabei so aufregend, dass ich am ganzen Leibe zittere.
In anderen Jahren schlief ich um diese Zeit.
Normalerweise werde ich erst wach, wenn die Nächte kürzer werden, damit am Tag genug Zeit zum Schlafen bleibt. Aber in diesem Jahr weckte mich ein Lungenleiden vorzeitig aus meinem Winterschlaf. Hungrig, hustend und frierend machte ich mich auf die Suche nach Nahrung.
Dass es so kalt sein kann!!! Das hatte ich nie erlebt. Und ich bin nicht etwa jung!!
Als ich schon fast die Hoffnung aufgeben wollte, wurde ich plötzlich ergriffen, in einen kleinen Laubhaufen in eine Kiste gesetzt und in einen weit wärmeren Raum gesetzt, als die Nacht da draußen war. Und ich bekam süße Milch zu trinken!! So lecker!! Leider vertrage ich sie nicht und es ging mir dann sehr im Bauch herum. Überhaupt quälte mich mein Husten und auch mein Bauch fühlte sich nicht gut an. Normalerweise fühle ich meinen Bauch nur, wenn ich Hunger habe oder verliebt bin. Aber dieses Gefühl war anders: es kniff und pikte und Hunger hatte ich überhaupt nicht!!
Ich bekam dann verschiedene Medizin gespritzt, auf meinen Bauch gerieben und in mein Futter gemischt.
Ich kann nicht sagen, dass mir das gefiel, weder das eine noch das andere! Aber irgendwie musste ich immer weniger husten, dafür kehrte mein Appetit zurück! Und was ich zu fressen bekam, war wirklich lecker!!
Alles hätte gut sein können, wenn ich nicht in einem viel zu kleinen Raum eingesperrt gewesen wäre! Keine Möglichkeit, sich zu bewegen und kein Entrinnen und keine Ahnung, ob ich je wieder diese köstliche Nachtluft atmen würde, ob ich jemals wieder feuchtes Gras unter meinen Fußsohlen spüren würde und jemals wieder fühlen könnte, wie trockene Zweige meinen Bauch streiften.
Tage und Nächte wechselten, ohne dass ich je den Mond zu Gesicht bekam. Längst hatte ich keine Idee mehr, wie lange ich gefangen war. Und wieder: als ich beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, je wieder frei zu sein, da wurde mein ganzes Zuhause ergriffen und nach draußen gesetzt.
Ungläubig steckte ich die Nase aus einer Öffnung, die es bisher nicht gegeben hatte, dessen bin ich mir sicher!! Diese Luft...!! Dieser Klang der stillen Nacht!
Mein Herz tat einen Freudensprung! ( Ich selbst bin nicht so fürs Hüpfen, ich bin zwar schnell, aber ich springe nicht.) Bevor sich meine Situation wieder verändern konnte, verließ ich mein Gefängnis.
Jetzt weiß ich, was ich immer wusste, was mir aber nie bewusst war:
So schmeckt Freiheit. So fühlt es sich an, dort zu sein, wo man hingehört!!
Nie zuvor ist mein Herz so weit geworden vor Freude und Dankbarkeit.
© Rosemarie Schrick